Vor 100 Jahren in Petrograd

Von Karl Klauss

 

Als im Morgengrauen des 7. November 1917 von dem an der Newa liegenden Panzerkreuzer Aurora mit einer Platzpatronenkanonade der Sturm von Soldaten und Arbeitern auf das Winterpalais, dem Sitz der russischen Regierung, ausgelöst wurde, nahm ein weltgeschichtliches Ereignis seinen Lauf. Der US-amerikanische Journalist John Reed sprach von „10 Tagen, die die Welt erschütterten“, in den westeuropäischen Hauptstädten wurde der Tag als kommunistischer Putsch bezeichnet und diese Wortwahl hält sich bis heute. Im Deutschen Reich hielt man sich 1917 mit Bewertungen dieser Art zurück. Hatte man doch wenige Monate vorher 32 hochrangige russische Kommunisten mit Lenin an der Spitze den Transit durch Deutschland von der Schweiz nach Russland erlaubt. Außerdem führte man einen Zwei-Fronten-Krieg und hoffte auf den russischen Zusammenbruch an der Ostfront. In Russland gärte es schon seit Jahren. Alle lokalen Aufstände seit Beginn des 20. Jahrhunderts ließ das im Volk verhasste Zarenregime niederschlagen. Auch die Revolution von 1905 endete in einem Desaster der Revolutionäre. Als nach der Februarrevolution 1917 der Zar trotz heftigsten Widerstandes zur Abdankung gezwungen wurde, sollte Russland sofort den Krieg beenden. Doch dazu kam es nicht, die Unruhen im Land, forciert durch Hungersnöte, schwollen an und entluden sich im November in Petrograd. Schon einen Monat später beendete Russland den Krieg und schloss im März 1918 in Brest-Litowsk mit Deutschland einen Friedensvertrag. Der Ruhe an der Kriegsfront folgte ein grausamer Bürgerkrieg der kommunistischen Roten Armee gegen die von den Westmächten unterstützte Weiße Armee. Nach drei Jahren siegten die Kommunisten, doch Russland lag nahezu verblutet wirtschaftlich am Boden. Schon allein aus den geschichtlichen Abfolgen ist es unhaltbar von einem Putsch zu sprechen. Der jüngst verstorbene große deutsche Historiker Gottfried Schramm ließ sich nie auf eine Putsch-Diskussion ein und charakterisierte die Ereignisse von 1917 in Petrograd als die letzte große Wegscheide in der Weltgeschichte.


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