Umjubelt und verschmäht

Von Wolfgang Nagorske

Fast unbemerkt feierte in diesen Tagen ein Mann seinen 90. Geburtstag, der wie kein zweiter in der Nachkriegsgeschichte die Welt veränderte. Michail Gorbatschow wurde im Jahr 1985 an die Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt und damit zum mächtigsten Mann der Warschauer Vertragsstaaten. Die Präsidenten der Ostblockstaaten trauten ihren Ohren nicht, als ihnen der neue Mann im Kreml seine Visionen vortrug. Der neue Mann war mit 54 Jahren ungewohnt jung und nicht gebrechlich wie seine unmittelbaren Vorgänger, er musste nicht gestützt werden, wenn er ans Rednerpult trat. Jedes verbündete Land trägt von nun an die alleinige Verantwortung, das Hineinregieren Moskaus ist beendet. Die Menschen in der DDR, in Polen, in Prag, Budapest, Rumänien und Bulgarien atmeten auf. Weniger erfreut darüber waren die führenden Politiker in diesen Ländern. Doch der Beton begann zu bröckeln. In Polen und Ungarn zuerst und dann überall. Gorbatschow wurde in Osteuropa umjubelt, doch im eigenen Land verschmäht. Vielleicht war es ein Fehler, seinen Landsleuten den Wodka zu verbieten, sie gaben ihm auch die Schuld, dass die riesige Sowjetunion auseinander fiel. Er führte die offene politische Diskussion ein und schwieg doch lange über das wahre Ausmaß der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Offenheit, Glasnost in seiner Sprache und Perestroika, Umbau der Wirtschaft, waren seine Säulen für eine andere Sowjetunion. Doch für den Umbau fehlten ihm genügend Fachleute in seinem Riesenland. So änderte sich nicht viel für die russischen Menschen, die Armut verwandelte sich nicht in Wohlstand. Zum 40. Jahrestag der DDR, den letzten den dieses Land feierte, sagte Gorbatschow den unvergeßlichen Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Er jedenfalls ist nicht zu spät gekommen, er kam gerade noch zur rechten Zeit.


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