Europa unter deutschem Vorsitz

Von Wolfgang Nagorske

Für sechs Monate hat Deutschland den Vorsitz in der EU übernommen. Es ist eine schwierige Zeit. Die nationalen Volkswirtschaften sind durch Corona angeschlagen, jedes Land scheint eigene Vorstellungen von einem vereinten Europa zu haben und dann steht bis zum Jahresende auch noch der endgültige Abschied des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union an. Nicht wenige Beobachter der Brüsseler Befindlichkeiten sprechen von einem Scherbenhaufen am Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft. Wie heraus aus der vielschichtigen Krise? Große Hoffnungen werden in ein 750 Milliarden schweres Konjunkturpaket gesetzt, auf das vor allem Spanien und Italien hoffen. Da ein Teil der riesigen Summe als nicht rückzahlbarer Betrag ausgezahlt werden soll, gibt es Widerstand von den sogenannten "sparsamen Vier". Das sind Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden, die die angeschlagenen Länder auch unterstützen wollen, aber mit rückzahlbaren Krediten und nicht mit Schenkungen. Sie berufen sich auf den Lissaboner Vertrag, der eine gemeinsame Schuldenhaftung der gesamten EU für einzelne Staaten nicht vorsieht. Die Lage ist ernst. Wenn Ungarn zeitweilig das Parlament in Urlaub schickt, Polen die Richter unter staatlicher Aufsicht stellen will und Italien die rote Linie der Kreditaufnahme überschritten hat, dann steht es um die Grundfesten Europas, nämlich Rechtstaatlichkeit und ökonomisches Augenmaß schlecht bestellt. Dabei ist das Dauerproblem immer noch nicht gelöst: die andauernde Flüchtlingskrise. Bisher verweigern sich vor allem Länder aus Osteuropa festgelegte Kontingente von Flüchtlingen aufzunehmen. Der Zustrom von Flüchtlingen vor allem über das Mittelmeer nach Europa ist nach wie vor ungebrochen. Die Erwartungen an Deutschland in den kommenden sechs Monaten sind hoch. Die ursprünglich vorgesehenen Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung und eine gemeinsame Position in der sich verschärfenden Handelswelt zwischen den wirtschaftlichen Riesen USA und China treten angesichts der drängenden aktuellen Probleme in den Hintergrund. Es ist die Stunde von Kompromissen und es bleiben nur sechs Monate.


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