Grenzenlose Schneekoppe
Von Wolfgang Nagorske
Der Aufstieg zur Schneekoppe ist vor allem im letzten Teilstück beschwerlich. Egal ob man von der polnischen Seite ab Karpacz oder der tschechischen Seite von Pec aus sich auf den Weg zum höchsten Gipfel des Riesengebirges macht. Die 1602 Meter Höhe wollen erst einmal bezwungen sein. Natürlich führen von beiden Seiten Seilbahnen bis nahe an den Gipfel, doch wer möchte nicht das Gefühl auskosten, es allein auf Schusters Rappen geschafft zu haben und angekommen, im matten Sonnenschein den Blick über Rübezahls Reich schweifen zu lassen. Die atemberaubende Schönheit des Anblicks macht die Strapazen des Aufstiegs vergessen. Ließ sich der schlesische Dichter Joseph von Eichendorff von diesem Ausblick inspirieren, als er 1810 sein Gedicht „O Täler weit, o Höhen“ schrieb, das später von Felix Mendelssohn Bartholdy zu einem der schönsten deutschen Volkslieder vertont wurde? Wir wissen es nicht. Aber bereits zwanzig Jahre früher, am 15. September 1790 bestieg Johann Wolfgang von Goethe die Schneekoppe. Reiften in der Höhe des Riesengebirges seine Zeilen aus dem Faust „Verweile doch, du bist so schön“? Doch dieser so friedlich dahin fließende schlesisch-böhmische Höhenzug, erlebte nicht nur friedliche Zeiten. Als nach dem ersten Weltkrieg 1919 mit Polen und der Tschechoslowakei zwei neue Staaten entstanden kam es zu Grenzstreitigkeiten, die weiter östlich im Teschener Schlesien sogar zu einem Krieg führten. Und in den 1980ger Jahren schwelte ebenfalls, zumindest verbal, ein Konflikt zwischen Polen und der Tschechoslowakei. In dieser Zeit war das Gebiet um die Schneekoppe nur Polen und Tschechoslowaken zugänglich. Ausländischen Bürgern war der Zutritt auf die Riesengebirgshöhen versagt. Das traf besonders die DDR-Deutschen hart. War ihnen das Reisen in Richtung Westen doch schon lange verwehrt. Die Europäische Union muss viel Kritik aushalten. Doch wer auf der Schneekoppe steht und sich entscheiden kann, den Abstieg nach Polen oder Tschechien zu wählen, der sollte sich an die Annäherung der europäischen Staaten über schmerzliche Kriege hinweg erinnern. Die grenzenlose Schneekoppe ist auch ein Werk der Europäischen Union.