2004

Aufgewachsen zwischen zwei Welten

b04 1"Was kann eine Mutter ihrem Sohn mitgeben auf seinen Weg, der sich von ihrem eigenen so sehr unterscheiden wird, wie die Wege fast aller Töchter und Söhne im untergegangenen Drei-Buchstaben-Land von dem ihrer Eltern? Für Sigrid Suszek sind es vor allem die unverfälschten Erinnerungen an ihre Arbeit, ihre Freunde und die große Liebe ihres Lebens, die Früchte trug. Nicht nur in Gestalt eines musisch begabten, sensiblen Kindes, sondern auch in Form von Bedrückungen und Erniedrigungen, die eine allein erziehende Mutter durchzustehen hatte. In Gestalt auch einer humorvollen Tapferkeit, die daraus erwuchs, einer Lebensklugheit, die keines belehrenden Eifers bedarf, sondern ganz und gar Ermutigung zum Eigensinn ist. Wei ihre Liebe aber durch den magen geht, hält Sigrid Suszek noch mehr für ihren Sproß und alle interessierten Leser parat: Kochrezepte nämlich."

Henry-Martin Klemt

 
 

Wieder Gespiegeltes

b04 2"Gerhard Hoffmanns Prosa erreicht auf ihren besten Seiten jene Einfachheit, die schwer zu machen ist; wir erinnern uns an eine in Verruf geratene Gesellschaftsordnung, von der Ähnliches behauptet wurde. Man lese einmal die Seiten über die Anschaffung, Benutzung und Pflege jener heiligen Rennpappe des DDR-Bürgers, liebevoll "Trabi" genannt, und man bekommt das Bild einer Zeit, das plastischer nicht sein könnte. Dabei macht der Autor nichts anderes als mit größter Genauigkeit das Wägelchen mit seinen Vorteilen und Tücken zu beschreiben. Oder er packt den Mantel der Geschichte, der oft nur ein Geist ist, am Kragen, und lässt ihn aus einer Flasche Wodka steigen, deren Nachwehen bis in die jüngste Gegenwart reichen. Hat er auch Humor, Ironie, gar Selbstironie dieser Autor? Er hat, was man ihm auf den ersten Blick nicht glaubt, er hat mitunter ein paar Schelmenzüge, die auf mehr deuten, ich meine auf künftige Arbeiten."

Fritz Rudolf Fries

Vom aufrechten Gang

b04 3Beim Erstbesuch finde ich die Mutter so vor, wie sie mir von ihrer Betreuerin beschrieben wurde. Sie ist geschädigt an Körper und Geist durch jahrelangen Alkoholmissbrauch. Alkoholosiert steht sie mir gegenüber und versteht mein Anliegen nicht. Sie lässt mich trotzdem in die Wohnung. Hier sieht es nicht ganz so schlimm aus, wie ich es bei Unterkünften von Alkoholikern gewohnt bin. Die Einflussnahme der Betreuerin ist erkennbar. Gleichzeitig erklärt sie entschlossen, dass sie für das Kind keine Hilfe benötige, alles könne sie allein regeln.

Auf Händen und Knien kriecht ein kleines Geschöpf in das Zimmer. In der Dämmerung des Raumes kann ich nicht genau erkennen - das Kind? Jetzt, wo es die Mutter sieht, beginnt es schneller zu kriechen und animalische Laute auszustoßen. Es kriecht auf die Mutter zu und zieht sich an ihr hoch. Die Mutter freut sich, sie berührt das Kind aber nicht.

Jürgen Stiel wurde 1939 in Berlin geboren. Nach seiner Elektrikerlehre wurde er Kamera-Assistent beim Deutschen Fernsehfunk und studierte Fotografie. Sei erstes Buch vermittelt Einblicke in soziale Grenzbereiche, fragt nach der Fähigkeit sozialstaatlicher Bürokratie, wirksam zu helfen und bündelt Erfahrungen seines Lebens in Gestalt dieser spannungsvollen und anrührenden Dokumentation.


Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.