Von Wolfgang Nagorske

 

Die traditionellen Reden zum Tag der Deutschen Einheit sind verrauscht. Von Jahr zu Jahr werden sie inhaltsleerer ohne rhetorische Eleganz und vor allem ohne politische und gedankliche Tiefe. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, immerhin protokollarisch der zweite Mann im Staate, beklagt das ewige Nörgeln und Schlechtreden des Zustandes in Deutschland, obwohl es den Deutschen doch so gut geht, wie in keinem Jahr zuvor in ihrer Geschichte. Da hat er weitestgehend recht. Doch von einem Politiker seines Kalibers erwartet man einfach mehr Tiefgang. Wenigstens in einem Satz hätte er erwähnen können, dass es längst nicht allen Deutschen so gut geht, wie er es beschrieben hat. Denn nach einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung für den Zeitraum von 1993 bis 2012 zählen 12,3 Prozent aller Erwerbstätigen zum verfestigten Prekariat. Was für ein Wort. Gemeint sind damit Menschen in so genannten prekären Arbeitsverhältnissen mit Niedriglohn ohne Arbeitslosenversicherung und Rentenansprüchen. Zudem leben sie in beengten Wohnverhältnissen und ihre Kinder können sich kaum etwas leisten. In absoluten Zahlen gesprochen sind das fast fünf Millionen Menschen, die mehr als Hartz IV, aber zu wenig zum Leben haben. Sind diese Menschen nicht auch Deutsche, denen es nach Schäuble, so gut geht wie niemals zuvor? Sie haben es schwer aus diesem Teufelskreis wieder heraus zu kommen. Die Schere zwischen arm und reich driftet in Deutschland immer schneller auseinander und gefährdet letztlich den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Es bleibt die Frage: Wie weit kann eine Gesellschaft in Richtung Ungleichheit gehen und dennoch die Demokratie bewahren? Diese Frage stellte der US-Ökonom Lester Thurow bereits vor zwanzig Jahren. Eine Antwort ist bis heute nicht gefunden.


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